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Bernt H. Berger & Alice I. Forbess

Moderne Chinesische Philosophie: Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Ein Tagungsbericht zu den 'Chinese Philosophy Symposia'


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  Die von Nick Bunnin organisierten Chinese Philosophy Symposia mit Experten und Forschern aus China, einschließlich Hong Kongs, und dem Westen waren in zwei Themenbereiche aufgeteilt: Der Fokus des ersten Symposiums lag vornehmlich auf philosophischen Problem- und Themenbereichen, während der zweite Teil den Akzent auf Philosophie im Kontext von aktuellen politischen, ökonomischen und kulturtheoretischen Problemstellungen und Konfrontationen im heutigen China legte.



 Ethik der Fürsorge und Nietzsche in China

Chinese Philosophy Symposia
4. - 5. April 1999
Center for Modern Chinese Studies
Institute for Chinese Studies
University of Oxford

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  In ihrem Vortrag Zwei Perspektiven der Fürsorge: Konfuzianismus und Feminismus untersuchte Julia Tao (City University of Hong Kong) die philosophischen Grundlagen einer Ethik der Fürsorge im Vergleich von Konfuzianismus und Feminismus, auf der Basis einer Studie, die von Soziologen in den Vereinigten Staaten vorgelegt wurde.  1  Der Begriff einer Ethik der Fürsorge geht mit einer Theorie der Verinnerlichung von moralischer Motivation einher, welche auf statistischer Grundlage mit Frauen in Verbindung gebracht wird. Gemäß der Theorie der Ethik der Fürsorge entwickle sich im Menschen durch die Erinnerung an eine erfahrene Fürsorge eine moralische Motivation. Daher werde in der Ethik der Fürsorge Kontextualität gegenüber Abstraktion bevorzugt. Der Wert des Handelns aus Liebe, Mitgefühl, Empathie, und der Wert beständiger Beziehungen werde bekräftigt. Im Gegensatz dazu würden Abstraktion, wissenschaftliche Neutralität und Objektivismus sowie das Handeln aus Pflicht abgelehnt.

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  Julia Tao nahm auch zu der (meta-ethischen) Ansicht Stellung, daß die Ethik der Fürsorge und der Konfuzianismus gemeinsame Charakterzüge besäßen. (Zum Beispiel sei das Konzept der Fürsorge dem chinesischen Jen ähnlich.) Sie argumentierte in die Richtung, daß zwar oberflächliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden ethischen Modellen bestünden, diese jedoch in vielen anderen Traditionen ebenfalls vorhanden seien. Ähnlichkeiten bestünden etwa im Wert, der der Fürsorge, beziehungsweise im Konfuzianismus dem Jen beigemessen werde, oder im Akzent auf praktischem Handeln statt theoretischer Ideen. Trotzdem verblieben jedoch erhebliche und bedeutende Unterschiede zwischen der Ethik der Fürsorge und dem Konfuzianismus.

»Konfuzianismus ist eine Lehre von moralischen Verhaltensweisen und absoluter Wahrheit, welche keine Form von Perspektivismus beinhaltet. Der Konfuzianismus ist de facto ein säkulares Konzept, welches jedoch durch seinen absoluten Status transzendent geworden ist.«

Chan Wing Ming

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  Chan Wing Ming (Hong Kong Baptist University) präsentierte einen Auszug seines neuen (noch in Arbeit befindlichen) Buches über den Einfluß Nietzsches auf China. Übersetzungen Nietzsches seien in China, verglichen mit anderen westlichen Philosophen, relativ weit verbreitet. Diese Popularität und weite Verbreitung rührten von Nietzsches Kritik am Christentum her (und aus diesem Grund von der Unterstützung durch die chinesische Regierung). Dieser Umstand jedoch habe nicht zu einer größeren Relevanz der Philosophie Nietzsches im chinesischen Kontext geführt.

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  Chan, selbst ein Christ, betrachtete drei Gesichtspunkte einer möglichen Relevanz Nietzsches für China. Er betonte, daß Nietzsche keineswegs unreligiös gewesen sei, jedoch an seiner eigenen Ungläubigkeit gelitten habe. Für Nietzsche bringe Glauben zwei Aspekte mit sich: (1) Der Glaube an Gott sei eine Entschuldigung, nicht zu denken, und (2) Wahrheit erfordere eine Perspektive. Im konfuzianistischen Kontext sei dieses Konstrukt von Wahrheit von vornherein ausgeschlossen. Konfuzianismus sei eine Lehre von moralischen Verhaltensweisen und absoluter Wahrheit, welche keine Form von Perspektivismus beinhalte. Der Konfuzianismus sei de facto ein säkulares Konzept, welches jedoch durch seinen absoluten Status transzendent geworden sei.

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  Ein zweiter Punkt, den Chan Wing Ming für China, und insbesondere im Kontext von Kolonialismus, für bedeutsam hält, ist das Konzept der Moralität von Herrn und Knecht. Eine chinesische "Knecht-Moralität" entwickle sich insoweit, als in der Konfrontation mit westlicher Zivilisation und Modernisierung eine Rückbesinnung auf eigene Tugenden stattgefunden habe, anstatt eine Perspektive für eine Zukunft des Wandels und der Auseinandersetzungen zu erarbeiten: »Die Chinesen wurden chinesischer.« Tugendhaftigkeit werde in China jedoch nicht als Schwäche angesehen. Eine ähnliche Ansicht wurde von dem chinesischen Schriftsteller Lu Xun vertreten.

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  Sein dritter Punkt bezog sich auf die vermittelnde Instanz. Weder Nietzsche noch der Konfuzianismus entwickelten eine generelle Theorie oder Prinzipien. Statt dessen werde in beiden Ansätzen der Vermittler gegenüber dem abstrakten Dogma hervorgehoben (zum Beispiel im Konzept des Übermenschen oder des konfuzianischen moralischen Vermittlers).



 Eine Gesellschaft in Transition



»Während der modernen Geschichte Chinas haben die Ideen des Liberalismus vorrangig als Antithese zu politischen Bestrebungen der sozialistischen Revolution gedient.«

Xu Youyu

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  Der Vortrag von Xu Youyu (Chinese Academy of Social Sciences, Beijing) im zweiten Symposiumsteil behandelte Geschichte und Theorie des Liberalismus auf dem chinesischen Festland. Die Idee des Liberalismus sei während der Qing-Dynastie von Yan Fu (1854-1921) aus England importiert worden. Während der modernen Geschichte Chinas hätten die Ideen des Liberalismus jedoch vorrangig als Antithese zu politischen Bestrebungen der sozialistischen Revolution gedient.

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  Der postkoloniale Diskurs habe auf einer Gleichsetzung von Modernisierung und Verwestlichung basiert. Vereinzelte Diskurse berücksichtigten Konzepte aus dem Kommunitarismus, da dieser eine Priorität der Gesellschaft vor dem Individuum postuliere. Lin Chun (London School of Economics) betonte in ihrem Kommentar, daß in China ein beständiger Wandel stattfinde und sich eine neue Debatte über die Bedeutung der Aufklärung etabliere.

Weitere Informationen zur Philosophy Summer School in China und zu den Chinese Philosophy Working Papers sind erhältlich bei:

Philosophy Project
Institute for Chinese Studies
Centre for Modern Chinese Studies
University of Oxford
Oxford OX1 2HG
U.K.

Fax:
+44 (0)1865 - 28 03 81

external linkhttp://www.orinst.
ox.ac.uk/chinese-
studies.html

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  Im vierten und letzten Vortrag konzentrierte sich Wei Xiaoping (People's University, Beijing) auf theoretische Fragen bezüglich der sozialistischen Marktwirtschaft im aktuellen Kontext. Deng Xiaopengs Reformen der chinesischen Wirtschaft seinen mit einer Dezentralisierung einhergegangen und hätten Ansätze eines offenen Marktes gezeigt. Ein Plan für den Ablauf des Transitionsprozesses mit dem Ziel einer Marktwirtschaft sei jedoch nicht vorhanden gewesen. Das entstandene Vakuum habe Diskussionen – mit Blick auf westliche Theorien liberaler Ökonomie – über die Vor- und Nachteile eines zentralisierten sozialistischen Programmes entstehen lassen. Das Ergebnis im Prinzip einer sozialistischen Marktwirtschaft basierte auf öffentlichem Eigentum in Kombination mit freier Marktwirtschaft.

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  Wei diskutierte Für und Wieder von Sozialismus und freier Marktwirtschaft im chinesischem Kontext und vermittelte den Eindruck, daß eine sozialistische Marktwirtschaft mehr oder weniger eine Art dritten Weges konstituiere, der für die chinesischen Verhältnisse angemessen sei. Im Hinblick auf Aspekte der Gerechtigkeit vereine dieser dritte Weg jedoch die Pathologien beider Systeme. Während Sozialismus zur Diktatur und ineffizienter Produktion tendiere, führe Kapitalismus zu sozialer Ungerechtigkeit, Mangel an sozialer Verantwortung und Korruption.

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  Die folgende Diskussion drehte sich um die Unterschiede zwischen Dezentralisierung und Deregulierung. Daraus entstand letztendlich eine Debatte über die Notwendigkeit politischer Institutionen, die einen ausgewogenen Transitionsprozeß gewährleisten könnten.



 Eine Bemerkung zum Schluß


Bernt H. Berger ist Doktorand in Internationalen Beziehungen,
Alice I. Forbess Doktorandin in Sozialanthropologie,
beide an der London School of Economics and Political Science.

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  Die Dynamiken und Faktoren, die im Prozeß sozialer, politischer und wirtschaftlicher Transition eine Rolle spielen, sind spezifisch für China. Daher müssen die Lösungen notwendigerweise chinesisch sein. Philosophie und Sozialtheorie können nicht über den jeweiligen soziopolitschen Kontext hinwegsehen. Die moderne chinesische Philosophie konstituiert sich als Ausdruck der Notwendigkeit von Konzepten für eine sozialpolitische Stabilität, welche Zeit und Raum für neue Ideen (und damit auch liberal demokratische) zur Verfügung stellen könnte. Diese Stabilität zu erreichen braucht jedoch Zeit und im Moment sollte das Hauptaugenmerk auf Ideen gelegt werden, die einen chinesischen Weg der Problemlösung von innen heraus artikulieren.

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  Das Symposium wurde zu einer nützlichen und sehr informativen Veranstaltung: Es verschaffte einen Einblick in gegenwärtige Orientierungen der modernen chinesischen Philosophie, zugleich bot es ein Forum für den Austausch von Ideen aus unterschiedlichen intellektuellen Richtungen und Traditionen und ließ Freiraum für Gedanken über die möglichen Prioritäten einer interkulturellen Philosophie. Das Centre for Modern Chinese Studies ist auch an der Organisation einer philosophischen Sommerschule in China beteiligt, die jährlich in verschiedenen Orten in China stattfindet.


Anmerkungen


 1   

Siehe etwa Nel Noddings: Caring: a feminine approach to ethics & moral education. Berkeley/Cal.: University of California Press, 1986. 



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