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Kurzbeschreibung und Vortragstitel:
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Gefördert durch das Zentrum für Interkulturelle Studien der Universität Mainz:
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Die Philosophie als Suche nach dem einen Wahren, Schönen, Guten hat trotz aller Kritik an hegemonialen Ansprüchen und Exklusionen nur in bestimmten Denkrichtungen auf die Situation radikaler Pluralisierung der Sinnstiftungen reagiert, zum Teil aber gerade in jenen differenztheoretischen Diskursen die immer nötige und mögliche Vermittlung nicht immer angemessen thematisiert. Auf der anderen Seite besteht gerade in der unübersichtlichen, von Schlagworten, Ängsten und Verkürzungen geprägten Situation der Gegenwart ein hohes Bedürfnis nach Präzisierung und argumentativer Stützung derjenigen Versuche, die sich ein Miteinander ohne Vorherrschaft und ein Nebeneinander ohne Gleichgültigkeit auf die Fahne geschrieben haben. Eine Sichtung und Analyse der Positionen der eigenen Tradition ist in dieser Hinsicht ein erster Schritt auf diesem Wege.
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Schon in der Aufklärung, so machte Hans-Martin Gerlach in seiner Eröffnung deutlich, ist die Spannung zwischen kultureller Dominanz und Anerkennung des Fremden spürbar und in Reflexionen Moses Mendelssohns und Immanuel Kants mehr als explizit. Die prekäre Verbindung zwischen aufklärerischen Impulsen, der Orientierung an einer alle Unterschiede überschreitenden menschlichen Vernunft und der Einsicht in die Heterogenität der pluralen Sinnsysteme potenziert sich aber in Zeiten der Globalisierung. Hier gilt es, ein Denken voranzutreiben, das Pluralität aushält, dabei aber auch die interkulturell begründbaren emanzipativen Tendenzen vorantreibt.
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Plurale Dimensionen der interkulturellen Gegenwart:
- Europas Selbstdefinition
- institutionalisierte Fremdhermeneutik
- Selbstverständnisse nichteuropäischer Kulturen
- Analyse Europas durch fremde Kulturen
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Ein solches Denken, eine interkulturelle Philosophie, wird in Deutschland seit mehreren Jahren uunter anderem von Ram Adhar Mall, Präsident der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie e.V., vertreten. In seinem Hauptvortrag analysierte er zunächst die mehrdimensionale hermeneutische Situation der Gegenwart. Einer letztlich einheitlichen Selbstdefinition Europas und einer oft mit theoretischer Gewalt verbundenen institutionalisierten Fremdhermeneutik stünden dabei eine zunehmende Artikulation des Selbstverständnisses nichteuropäischer Kulturen und ein Verstehen der Kultur Europas durch deren Angehörige gegenüber. In dieser Situation sei eine Besinnung darauf nötig, dass Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen immer zusammen gehörten, um nicht nur das Selbstverstehen im angeblichen Fremdverstehen zu verdoppeln.
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Malls Konzept einer interkulturellen Philosophie versteht diese eher als eine Einstellung denn als eine Disziplin. Sie sei auch nicht nur ein Ableger der Postmoderne oder eine schwärmerische Ästhetisierung, sondern nehme den Anspruch auf Beachtung fremder Lösungen ernst. Sie plädiere für eine Einheit ohne Einförmigkeit und sei dabei an der Emanzipation vor allem des außereuropäischen Denkens orientiert. Gleichzeitig wolle sie die philosophia perennis in vielen Sprachen hörbar machen und plädiere für die allgemeine Applizierbarkeit des Begriffs Philosophie. Aller Selbstverständigung, der europäischen Philosophietradition wie anderer kultureller Systeme, liege ein solches Verständnis wie ein Schatten zugrunde – es müsse gleichwohl, und auch dafür plädiere die interkulturelle Philosophie, erarbeitet und kultiviert werden.
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»Klassische« Philosophen interkulturell gelesen
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Wie eine solche Erarbeitung aussehen kann, entwickelte Mall anschließend anhand von Hegel, Husserl, Heidegger, Jaspers und Wittgenstein. Dabei wurde deutlich, inwiefern sich diese Philosophen interkulturell lesen lassen – und inwiefern manche die eigene Kultur als alleinigen Maßstab, als Telos der Geistesentwicklung oder als einzig philosophische Kultur auffassen. Die vierfache Perspektive der interkulturellen Philosophie – die Kritik aller Exklusivität der Wahrheit in philosophischer, die Betonung von Toleranz und die Fundamentalismuskritik in theologischer, die Unterstützung pluralistischer Demokratie in politischer und die Forderung nach praktischer Umsetzung in pädagogischer Hinsicht – machte die zukunftsorientierte Agenda dieses Denkens deutlich. Malls persönliche Erfahrungen in verschiedenen kulturellen und akademischen Zusammenhängen konnten dies eindrucksvoll illustrieren.
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Kultur als Autobiographie ›des‹ Menschen
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In einem ebenso inhaltlich anregenden wie performativ anspruchsvollen Vortrag entwickelte der Würzburger Philosoph Franz Peter Burkard eine methodisch orientierte Vorstellung von philosophischer Kulturanthropologie, die der interkulturellen Situation gerecht wird. Ausgehend von einer Fabel des Humanisten Juan Luis Vives und dem Gedanken, dass die Selbstauffassung des Menschen als Auffassung eines Selbsts historisch bedingt sei, überprüfte Burkard die Tragweite der Vorstellung von »Kultur als Text«, die der writing culture-Debatte in der Ethnologie ebenso wie der Definition von Kultur als selbst gesponnenem Bedeutungsgewebe (Clifford Geertz) Tiefenschärfe verleihe. Mit Ricoeur versteht Burkard die Identität des Menschen als narrativ konstituiert und Kultur als Autobiographie »des« Menschen. Diese Vorstellung ermögliche es, die abstrakten Bestimmungen des Menschen performativ zu konkretisieren und in der Kultivierung rhetorischer und reflexiver Kompetenzen sowie in der Kenntnisnahme fremder Kulturen eine Erweiterung des Diskursuniversums des Redens über menschliche Bedeutungen zu sehen.
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Ebenfalls von Geertz ausgehend entwickelte der Frankfurter Ethnologe Volker Gottowik ein Verständnis von Ethnologie, das den Anderen im Kontext seiner, nicht »unserer« Kategorien und Werte zu verstehen sucht. Die aus ethnologischer Forschung resultierende Einsicht in andere Welterschließungen, die philosophische Überfrachtungen ablehne und nicht auf Einfühlung oder Dialog angewiesen sei, ermögliche dann auch, sich selbst als Fremde und damit besser zu verstehen. Inwiefern ein solches Erschließen überhaupt möglich sei, wurde ebenso Gegenstand intensiver Diskussionen wie die Frage, ob dieses Vorgehen nicht negativ den Kolonialismus im Mantel des Verstehenwollens perpetuiert oder positiv sogar als Stärke einer im weitesten Sinne europäischen Reflexivität zu verstehen sei. In eine solche Richtung deutete auch Gottowiks interessante Anregung, die Ergebnisse ethnographischer Tätigkeit immer auch in den beobachteten Kulturen vorzustellen oder zugänglich zu machen.
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»Man« (Heidegger) und »Denken im Gehäuse« (Jaspers)
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Die weiteren Vorträge wurden vor allem von jüngeren Wissenschaftlern gehalten und bezeugten die vielfältigen Anregungen, die aus einer Übertragung geistesgeschichtlicher Traditionen auf aktuelle Phänomene zu gewinnen sind. Oliver Immel und Christian Rabanus, Philosophen aus Mainz, entwickelten so eine existentielle und eine phänomenologische Perspektive in je unterschiedlicher Akzentuierung. In einer Lektüre von Jaspers' Psychologie der Weltanschauungen und Heideggers Analyse des Man stellte Immel die kulturphilosophischen Implikationen der existenzphilosophischen Positionen heraus und zeigte auf, wie in dieser Perspektive ein zwar notwendig kulturell überformtes, aber Individualität und Eigentlichkeit verhinderndes »Denken im Gehäuse« einer echten, enthusiastischen Weltanschauung, einer existentiellen Aneignung kultureller Gehalte gegenüberstehe. Die Entwicklung und Förderung solcher Aneignungen, so Immel, sei Bedingung des Überlebens kultureller Systeme im Zeitalter des Nihilismus. Aus Jaspers' »Weltphilosophie« und Heideggers »Besinnung« seien so Impulse für das interkulturelle Denken zu ziehen.
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Die Phänomenologie bildete den Ausgangspunkt des Vortrags von Christian Rabanus. Hatte schon Mall die Vorstellung kritisiert, es gebe eine apriorische Struktur des Denkens, so zeigte Rabanus ausführlich, wie Husserls Vorstellung eines reinen, kulturunabhängigen Sehens die lebensweltliche Einbindung des Menschen übersehe. Dieser Einwand greift jedoch für andere Varianten der Phänomenologie nicht, die dann wohl auch die Intention von Husserls Europaidee aufzunehmen vermögen. Rabanus zeigte dies anhand des tschechischen Husserl-Schülers Jan Patocka, der gerade die Unmöglichkeit radikaler epoché betont, jener zentralen methodischen Operation Husserls, mit der dieser alle individuellen, historischen und kulturellen Setzungen einzuklammern forderte. Statt dessen plädiert Patocka dafür, Reflexion und intersubjektives Handeln als ursprüngliche, immer schon lebensweltlich eingebundene Dimensionen der menschlichen Existenz ernst zu nehmen. Aus dieser existentiellen Gleichursprünglichkeit von Philosophie und Politik lässt sich dann eine Solidarität der Erschütterten ableiten und in Kunst und Literatur ebenso wie in interkulturellen Beschreibungen und Kommunikationen ein Hauch dieser Erschütterung vermitteln, der allen gewaltsamen Geltungsansprüchen entgegensteht.
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Religion als Substanz der kulturellen Formen?
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Die Ausdifferenzierung der modernen westlichen Kultur und ihre Implikationen bilden für jede kulturtheoretische und -vergleichende Perspektive die Hintergrundfolie. In besonderer Weise gilt dies für die Theologie, die sich in dieser Entwicklung Infragestellungen seitens der säkularen Kultur wie anderer Religionen gegenüber sieht. In seinem Vortrag über die Kulturtheologie Paul Tillichs rekonstruierte der Mainzer Theologe Jörg Lauster dessen Bestimmung des Verhältnisses von Kultur und Religion: Letztere ist für ihn die Tiefendimension aller kulturellen Formen und gibt den disparaten Phänomenen der modernen Kultur die Verankerung im letzten Sinn. Gleichzeitig entwickelt Tillich so einen vertieften Begriff von religiöser Toleranz und rückt von der Vorstellung einer Universalreligion ab, betont statt dessen die Unendlichkeitsrelation in allen Religionen. Unklar bleibt bei dieser Verbindung interkultureller und interreligiöser Momente, ob die skizzierte Position mit dem Selbstverständnis von Offenbarungsreligionen zu verbinden ist.
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Zu den klassischen Positionen der Kulturphilosophie der Moderne zählen Georg Simmel und Ernst Cassirer, die gleichfalls in Vorträgen in den Blick genommen wurden. Der Philosoph Dirk Solies (Mainz) entwickelte Simmels radikale These eines Pluriversums geschlossener Kulturwelten und das zugrunde liegende lebensphilosophische Emergenzkonzept. Simmels berühmte Analyse des Fremden, der die Selbstreflexivität einer Kultur erst ermöglicht, und die kulturkonstitutive Rolle der Fremdheit lassen sich aber mit ihrer impliziten Mystik der Nichtentfremdung nur bedingt für das interkulturelle Denken fruchtbar machen.
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Auch der Verfasser dieses Berichts beteiligte sich mit einem Vortrag über Ernst Cassirer, der mittlerweile wieder als einer der zentralen Kulturtheoretiker rezipiert wird. Mit Cassirers Grundbestimmung der Kulturalität allen Weltverhaltens lassen sich, so die Analyse, starke Inkommensurabilitätsthesen widerlegen. Seine Affirmation kultureller Pluralität und sein Konzept individueller Aneignung kultureller Gehalte, das dem der narrativen Identität vergleichbar ist, bilden weitere Anhaltspunkte interkulturellen Denkens. Mit Cassirer kann zudem der Versuch unternommen werden, eine nicht eurozentrische Auszeichnung der reflexiven Stärke der europäischen Kultur zu entwickeln.
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»Kampf der Kulturen« – zwischen Huntingtons Projektionen und
Nietzsches Visionen
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In den weiteren Vorträgen der Tagung zeigte der Mainzer Politikwissenschaftler Johannes Marx, dass die vielen Einschätzungen zugrunde liegende Vorstellung eines unvermeidlichen »Kampfs der Kulturen« auf Einseitigkeiten und Unklarheiten des Kulturbegriffs beruhen. Insbesondere die Thesen Samuel Huntingtons wurden dabei aus sozialwissenschaftlicher Sicht sowohl auf begrifflicher wie empirischer Ebene widerlegt. Konstantin Broese, Philosoph aus Mainz, lieferte mit einem Vortrag über Friedrich Nietzsche, in vielerlei Hinsicht Stammvater zahlreicher Stränge gegenwärtiger Kulturkritik, einen Einblick in dessen Widerspruch gegen Massenkultur, Behaglichkeit und Fortschrittsoptimismus. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Nietzsches therapeutische Hoffnung, die Wiedereinführung einer agonalen Kultur, nur eingeschränkt als Modell interkulturellen Denkens dienen kann.
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Mit dem Versuch, kulturphilosophische Positionen zu aktualisieren und mit theologischen, ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Konzepten und Erkenntnissen zu kontrastieren, wurde auf der Tagung, so zumindest die Hoffnung, ein kleiner Beitrag zum Selbstverständnis unserer Kultur in der Situation interkultureller Herausforderungen geleistet und Wege der Beschreibung und Förderung interkultureller Kontakte aufgezeigt. Interkulturelle Kommunikation setzt immer auch eine Distanzierung von der je eigenen Kultur voraus – darin liegt ihre Schwierigkeit, aber immer auch ihr Gewinn.
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