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Grenzüberschreitendes Denken |
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Face to Face: Connecting Distance and Proximity 8th Biennal EASA Conference European Association of Social Anthropologists Wien (Österreich) 8.-12. September 2004 ![]() |
1 | Die internationale Konferenz zur Sozialanthropologie unter dem Thema Face to Face: Connecting Distance and Proximity an der Universität Wien, veranstaltet von der European Association of Social Anthropologists (EASA), eröffnete den circa tausend TeilnehmerInnen ein weites Feld unterschiedlicher Debatten. Von 8. bis 12. September unterzogen die zahlreich versammelten ForscherInnen Begriffe wie ›Nationalstaat‹, ›Zugehörigkeit‹ oder ›Globalisierung‹ aus unterschiedlichen Perspektiven einer kritischen Reflexion. | ||
2 | Ein wichtiger Aspekt der EASA-Konferenz war das Um- und Neudenken von politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Machtverhältnissen. Kategorien überschreitendes Denken wurde als geeignete Herangehensweise gefordert, um einerseits Prozesse der Globalisierung und andererseits die Neudefinitionen von politischen und sozialen Räumen in Europa zu analysieren. Besonders in Workshops, die sich mit Themen wie soziale Bewegungen, der Entstehung von neuen Nationalismen oder den Rechten für Minderheiten auseinandersetzten, stand die Suche nach adäquaten theoretischen Ansätzen und ihrer methodischen Umsetzung auch weiterhin im Mittelpunkt. Es folgen einige exemplarische Gedanken aus den überaus zahlreichen Einzelveranstaltungen. | |||
Minderheiten und Translokalitäten jenseits des Nationalstaats |
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Veranstalter: European Association of Social Anthropologists (EASA) ![]() ![]() |
3 | Im Workshop Minority Rights, Culture and Anthropology unterzogen die Vortragenden die scheinbar neutralen nationalen Gesetze vor allem im Bereich Minderheitenrechte und EU-Richtlinien einer kritischen Prüfung. Ayse Caglar erläuterte die Auswirkungen der Gesetzgebung auf legale transnationale Räume für MigrantInnen in Deutschland und machte die Nachteile und Widersprüchlichkeiten sichtbar, die in der Anwendung des Familien-Codes für MigrantInnen entstehen. Im Vordergrund der Diskussion stand einerseits die Forderung nach der Neuformulierung von Gesetzestexten, die nicht auf exklusiven Kategorien (Kultur, Nation, Ethnizität oder Tradition) basieren. Andererseits sollte dem fehlenden Zugang von Minderheiten zu Arbeitsmärkten, Bildungseinrichtungen oder politischer Partizipation – bedingt vor allem durch institutionalisierte Diskriminierung – entgegengewirkt werden. | ||
4 | Die Ansätze von Sabine Strasser und Krystyna Romaniszyn zu transnationalen Aktivitäten, ihren Verbindungen und Begrenzungen aus dem Workshop Facing Distance and Proximity lieferten grundlegende Überlegungen zu Loyalität und Mitgliedschaft und sind auch für die aktuelle Frage nach multikulturellen Konzeptionen von Bedeutung. Formieren oder beeinflussen ›Translokalitäten‹ Nationalstaaten oder umgekehrt? ›Translokal‹ meint hier das Agieren von Individuen oder Gruppen, die nicht nur mit einem lokalen Kontext, sondern auch etwa durch Migration oder Religion mit verschiedenen Orten über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. | |||
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Sabine Strasser stellte in der Diskussion um die Beziehungen zwischen Nationalstaaten und Translokalitäten post-nationale Ansätze sowie Residenzansätze vor: Postnationale Ansätze, die Globalisierungstheorien, aber auch Forschungen zu »translocalities from above and from below«und die Cultural Studies einschließen, betonen die Schwächung der Nationalstaaten durch die Dynamiken translokaler Netzwerke. Das bezweifeln VertreterInnen der Residenzansätze, indem sie auf Grenzkontrollregimes und andere Regulierungsinstrumente und -maßnahmen der Nationalstaaten verweisen. |
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6 | Aufbauend auf der Kombination beider Ansätze richtet sich das Forschungsinteresse nun verstärkt auf Fragen nach transnationalen Aktivitäten und auf die Frage, inwieweit sie von globalen Prozessen und von lokalen Grenzziehungen geformt sind. Einige AnthropologInnen haben naturalisierte Konstruktionen von Nation und Assimilierung in Frage gestellt und alternative Konzepte zu Mitgliedschaft und politischer Partizipation formuliert. So spricht zum Beispiel zum Beispiel Nira Yuval-Davis von einer »vielschichtigen Bürgerschaft« (multi-layered citizenship), die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Staaten nicht die einzigen politischen Einheiten sind, in denen die Menschen Bürger sind, obwohl sie nach wie vor meistens die machtvollsten sind. Dennoch erfordert diese Infragestellung zusätzlich tief gehende empirische Forschungen, um sowohl die Auswirkungen von translokalen Aktivitäten auf Nationalstaat, politische Räume oder soziale Realitäten zu untersuchen als auch soziale, politische und rechtliche Ausgrenzung, im Besonderen ungleichen Zugang zu Arbeitsmärkten, sozialen Dienstleistungen oder Institutionen, sichtbar zu machen. | |||
Stimmen der Repräsentation |
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![]() Nadje Al-Ali |
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Um politischen Aktivismus von Minderheiten drehte sich die Diskussion im Workshop Muslim Cultural Politics in Europe and the Middle East, wobei wir im Folgenden den Beitrag von Nadje Al-Ali herausgreifen, der einen Einblick über Theorie und Aktivismus im Kontext von Islamophobie, Eurozentrismus und muslimisch-feministischen Strategien gab. Transnationale Aktivitäten haben nicht nur unterschiedliche Bedeutungen für verschiedene Personen(-gruppen), sondern auch für einzelne Personen zu jeweiligen Zeitpunkten oder Lebensphasen. Dennoch wird diese Vielheit von Positionierungen oft durch essentialistische Identitätspolitik verdeckt, wie Al-Ali kritisiert: Bei der Bezeichnung »The Muslim Representative of Britain« stellt sich für sie die Frage: »Representing whom?«In diesem Fall seien die Sprecher Männer, und die Frauen würden marginalisiert. Differenzen gäbe es nicht nur hinsichtlich des Geschlechts sondern auch hinsichtlich der »Klasse«, politischer Orientierung, persönlicher Erfahrung und Meinung. |
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8 | Eines der Konzepte zu Differenz, Identität und Allianzenbildung, die von verschiedenen neuen sozialen Bewegungen artikuliert werden, knüpft an Gayatri Spivaks Konzept des strategischen Essentialismus an. Spivak weist jedoch auch auf die Gefahr hin, dass in weiterer Folge Gruppen von außen einheitliche und relativ unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben bekommen und als homogene Einheit konstruiert werden. Vor dem Hintergrund postkolonialer Diskurse und feministischer Theorien kann strategischer Essentialismus vereinheitlichte Identitäten reproduzieren, aber auch durch die Verdeutlichung seiner Vielfältigkeit zur Infragestellung eindimensionaler Identitätskonzepte beitragen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch immer wieder die Frage, inwieweit die Förderung von Minderheiten – oder in Spivaks Worten von »subalternen Gruppen« – selbst Kategorien der Differenz (re-)produziert und damit Gleichheit entgegenwirkt. | |||
9 | Die soziale Konstruktion kollektiver Identitäten als kongruente Einheiten vermag in bestimmten Situationen durchaus sinnvoll zu sein. Nadje Al-Ali meint, dass es in Frauenbewegungen in der arabischen Welt aus diesem Grund manchmal erforderlich sei, sich als Frau und Muslimin zu repräsentieren, in anderen Kontexten jedoch hierarchische Beziehungen unter muslimischen Frauen zu betonen. Essentialistisches Auftreten könne immer nur ein erster – nicht unproblematischer – Schritt sein, dem im Denken unmittelbar ein »Aber« folgen sollte. Dieses »Aber« inkludiert ein von vielen Kategorien fragmentiertes und dynamisch veränderbares komplexes Gebilde. | |||
10 | Diese Problematik spiegelt sich laut Al-Ali auch in der Arbeit von Frauenorganisationen wider: So setzen auch die Aktivistinnen von Woman in Black strategische Essentialismen ein. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist, dass sie Position gegen Krieg und für Frieden mit Gerechtigkeit beziehen. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, wie sehr Krieg und Gewalt eine Kontinuität (representative continuity) darstellen, die besonders Frauen betrifft. Die Organisation versucht aber auch, den Polarisierungen in öffentlichen Debatten entgegenzuhalten, dass es auch Positionen gibt, die sich jenseits eines dichotomen Verständnisses – wie »gegen den Irak-Krieg« bedeutet »für Saddam Hussein« zu sein – bewegen. Dennoch gibt es intensive Diskussionen über Differenzen und verschiedene Positionen innerhalb der Organisation. | |||
Die multikulturelle Frage |
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»How then can the particular and the universal, the claims of both difference and equality be recognised? How can the struggle to deepen democracy and to contest and dismantle racism and exclusion be motivated? This is the challenge, the conundrum which the multicultural question properly understood lays on us.« Stuart Hall |
11 | Ein Forschungsschwerpunkt für SozialanthropologInnen ist die Auseinandersetzung mit Multikulturalismuskonzepten jenseits von zugrunde liegenden Ideen des liberalen Multikulturalismus oder des postmodernen Relativismus. Wie können multikulturelle Konzepte formuliert werden, damit sie in der praktischen Umsetzung Hierarchien und Ungerechtigkeiten entgegen wirken und – im Gegensatz zu Formen des liberalen Multikulturalismus – nicht darüber hinwegsehen, dass weite Teile der Bevölkerung durch verschiedene Diskriminierungsformen marginalisiert werden? | ||
12 | Für Nadje Al-Ali stehen Ansätze im Mittelpunkt, die es Leuten erlauben, miteinander zu leben, Verbindungen von Verschiedenheit zu schaffen und universale Normen und Rechte zu akzeptieren. Dies ist sowohl eine politisch als auch theoretisch sehr herausfordernde Frage. Minderheiten und AktivistInnen gestalten durch ihre Partizipation öffentliche Räume mit, die durch Überschneidungen verschiedener Differenzierungsachsen strukturiert sind, worüber vor allem in »Assimilierungskonzepten« geschwiegen wird. | |||
13 | Al-Ali verweist auf Stuart Halls Auseinandersetzung mit der Frage nach Multikulturalität. Für Hall sind zwei Bedingungen wesentlich, unter denen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Differenz, Gleichheit und Gerechtigkeit für ein multikulturelles politisches Verständnis angestellt werden müssen: erstens die Etablierung tiefgehender radikalisierter demokratischer Praktiken in sozialen und politischen Räumen; und zweitens die konsequente Infragestellung aller Formen von exklusivistischen Identitätskonzepten, da sonst keine Prozesse entstehen können, durch die inklusive Zugehörigkeiten aus Partikularitäten heraus konstruiert werden. Die Entwicklung von Konzepten, die sozialen Hierarchien und ungerechter Verteilung entgegenwirken, erfordert Perspektiven, aus denen Überschneidungen multipler Diskriminierungsachsen in der Gesellschaft analysiert werden. Hierbei müssen Minoritäten als Teil dieser Gesellschaft verstanden werden und nicht als ein erst zu »integrierendes Außen«. | |||
14 | Weiterführend in dieser Diskussion ist auch Nira Yuval-Davis' Ansatz der »Politik der Zugehörigkeit« (politics of belonging). Dieser Schwerpunkt entwickelte sich aus der Arbeit zu Identitätspolitik und »vielschichtiger Bürgerschaft« (multi-layered citizenship). »Politik der Zugehörigkeit« beschränkt sich nicht auf Zugehörigkeit, Rechte und Verpflichtungen, es geht ebenso um die Gefühle, die diese Zugehörigkeit hervorruft. Ebenso kann Zugehörigkeit nicht mit Identität gleichgesetzt werden. Vielmehr bedeutet sie, individuelle und kollektive Erzählungen vom Eigenen und Anderen, Repräsentationen und Zuschreibungen, Mythen über Herkunft und Zukunft mit einzubeziehen. Ein Schwerpunkt anthropologischer Forschung ist die Weiterentwicklung von Methoden, um diese Phänomene erfassen zu können, die nicht an Territorien gebunden sind. Das erfordert auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Ausschluss von Menschen durch hierarchisch konstruierte Grenzziehungen. | |||
Von den »Anderen« zum »Eigenen« |
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Sozialanthropologische Agenda ist mehr denn je die Auseinandersetzung mit Ein- und Ausschluss- mechanismen – ob in Hinblick auf Gender-, Klassen- oder religionsspezifische Diskriminierungsachsen oder auch auf politische Ausgrenzungsprozesse wie der »Festung Europa«. |
15 | Der lange Zeit dominante Fokus der Anthropologie auf das Erforschen »der Anderen« in der Ethnographie wird heute zunehmend durch kritische Auseinandersetzungen mit »dem Eigenen« ersetzt. Konflikt- und Friedensforschungen sollen dazu beitragen, gewaltsamen Grenzziehungen entgegenzuwirken, die durch Fundamentalismen, Rassismen und Rechtspopulismen motiviert sind. Andre Gingrich (Universität Wien) wies im Plenum Re-defining Europe: Perspectives from Socio-Cultural Antrhopology auf die Notwendigkeit neuer Methoden in der Forschung hin, um zum einen die komplexen und widersprüchlichen Prozesse in Europa und zum anderen auch die Mehrheitsgesellschaften selbst analysieren zu können. Bevorzugter Forschungsgegenstand sollten Mechanismen der Unterdrückung werden und nicht die Unterdrückten. | ||
16 | Eine auf der Konferenz verbreitete Argumentation war, dass die Auflösung von Grenzen und vereinheitlichenden Kategorien weiterverfolgt werden sollte. Vorstellungen von homogenen abgrenzbaren Kulturen, die an spezifische Territorien gebunden sind, wurden in der Sozialanthropologie seit Ende der 1980er Jahre weitgehend in Frage gestellt. Seither richtet sich das Forschungsinteresse verstärkt auf durchlässige Grenzgebiete, Migrationsbewegungen und neue Technologie-, Finanz- und Medienflüsse. Das bedeutet jedoch nicht, dass Nationalstaaten bedeutungslos geworden wären oder dass es keine stabilen Grenzen mehr gäbe. Sozialanthropologische Agenda ist mehr denn je die Auseinandersetzung mit Ein- und Ausschlussmechanismen – ob in Hinblick auf Gender-, Klassen- oder religionsspezifische Diskriminierungsachsen oder auch auf politische Ausgrenzungsprozesse wie der »Festung Europa«. |
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