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Solidarität unter Fremden |
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Neue Formen von Solidarität zwischen Nord und Süd. Gerechtigkeit universalisieren XI. Internationales Seminar des Dialogprogramms Nord-Süd Eichstätt (Deutschland) 19.-23. September 2005 Veranstalter: Missionswissen- schaftliches Institut Missio ![]() ![]() ![]() ![]() |
1 | Vom 19.-23. September 2005 fand in Eichstätt das XI. Seminar des Dialogprogramms Nord-Süd statt. Mit dem Thema Neue Formen der Solidarität zwischen Nord und Süd: Gerechtigkeit universalisieren fügte sich dieses Seminar in die Tradition der interkulturellen Dialogreihe ein, die sich ursprünglich ausgehend von der Debatte zwischen Diskursethik und Befreiungsphilosophie entfaltet hatte, bevor sich die Diskussion stärker praktische gesellschaftliche Zeitfragen akzentuierte und sich mit Fragen der Armut (Dialogseminar V und VI), der Menschenrechte (Dialogseminar VII und VIII), der Demokratie in den Kulturen (Dialogseminar IX) und der Globalisierung (Dialogseminar X) auseinandersetzte. Dies bedeutete eine erste Wende im Dialogprogramm. Sichtbarer Ausdruck einer weiteren Wende in der Geschichte dieser Initiative war der Verzicht auf das Adjektiv »philosophisch« im Titel des Dialogprogramms. Er ist Zeichen selbstkritischer Einsicht in die Historizität und Kontextualität philosophischen Wissens sowie der Bereitschaft, mit anderen Wissenschaften und kontextuelle Denkkulturen des Südens, die sich nicht selbst als Philosophie verstehen, als gleichberechtigte Partner ins Gespräch zu kommen. | ||
2 | Mit der Suche nach Alternativen internationaler Gerechtigkeit im Kontext der neoliberal globalisierten Weltgesellschaft und eines sich verschärfenden Nord-Süd-Gefälles knüpfte dieses Seminar, wie Raúl Fornet-Betancourt (Deutschland) in seiner Einführung festhielt, an die kritische Zeitdiagnose des X. Dialogseminars in Sevilla in der Absicht an, die wachsende Ungleichheit zwischen Nord und Süd durch eine Praxis der Solidarität zu überwinden, die sich auf die Seite der Verarmten dieser Erde stellt und mit ihnen zusammen an der Versöhnung der Menschheit arbeitet. Diese praktische Zielsetzung bestimmte die Erörterung der Solidaritätsfrage in drei Foren, in denen zunächst Perspektiven internationaler Gerechtigkeit und solidarischen Handelns im heutigen Weltkontext erörtert, sodann Kontexte und Subjekte von Solidarität analysiert und schließlich die Frage diskutiert wurde, wer die neue Solidarität leisten und wie sie geleistet werden könne. | |||
3 | In ihrem Eröffnungsvortrag erhellte Hille Haker (Deutschland) den Solidaritätsbegriff, indem sie ihn zwischen Gerechtigkeit und Anerkennung auf der Ebene sozialen Handelns verortete und sowohl gegen ein identitätstheoretisches Verständnis des Solidaritätsgedankens als auch gegen ein rein normatives abgrenzte. Solidarität, definiert als eine auf die Überwindung eines moralisch zu geißelnden Zustandes gerichtete Handlungsorientierung, bildete den Kern der skizzierten kritischen Solidaritätstheorie, die auf die Gerechtigkeitstheorie als Maßstab für die Evaluierung solidarischen Handelns angewiesen bleibt und Formen faktischer wie politisch-ethischer Solidarität umfasst. Angesichts weltweit zunehmender Ungerechtigkeit mahnte die Referentin einerseits, neue Wege in Ökonomie und Ethik zu beschreiten, um Verteilungsgerechtigkeit, gleichberechtigte Partizipation und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen zu ermöglichen, und forderte andererseits, eine neue Bewegung der »Solidarität unter Fremden«, um nationale und internationale Institutionen zu drängen, die als politische Agenda vereinbarten Millenniumsziele in ihr Handeln aufzunehmen. | |||
Perspektiven internationaler Gerechtigkeit und Solidarität |
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4 | Die Frage, wie diese neue Solidarität beschaffen sein und entwickelt werden sollte, stand im Mittelpunkt des ersten Forums, das auf dem Hintergrund einer kritischen Zeitanalyse theoretische und praktische Ansätze für die Verwirklichung weltweiter Solidarität prüfte, um wesentliche Merkmale der angestrebten neuen Solidarität zu benennen. | |||
5 | Um der zunehmenden Verschärfung der Ungerechtigkeit auf interkultureller und internationaler Ebene entgegenzuwirken, die sich im Ausschluss von Millionen von Menschen von Entwicklung und Fortschritt manifestiert, schlug León Olivé (Mexiko) vor, sich am Modell sozialer Gerechtigkeit zu orientieren und im Dialog mit allen Betroffenen geeignete Maßnahmen und Institutionen zu entwickeln, die allen Kulturen Zugang zu Wissen, zur Nutzung dieses Wissens und vor allem zur Möglichkeit erschließen, selbst geeignetes Wissens hervorzubringen und so ihre Probleme im Einklang mit ihrer Weltanschauung und ihren Werten zu lösen. Gleichzeitig wies er auf die Notwendigkeit weltweiter Ausgleichsmechanismen für benachteiligte Völker und solidarischen Handelns hin, um den Entrechteten unter ungleichen Machtverhältnissen zu ihrem Recht zu verhelfen. Soziale Gerechtigkeit sei universalisierbar. Die Verwirklichung gerechter interkultureller Beziehungen hänge jedoch davon ab, ob verschiedene Völker einen Minimalkonsens über grundlegende Normen und Werte erzielen können. | |||
»Die Ausblendung des Verhältnisses zwischen Ungerechtigkeit und wirtschaftlicher Globalisierung verhindert letztlich die Einsicht in die Notwendigkeit radikaler struktureller Veränderungen.« Felix Wilfred |
6 | In seinem Beitrag unterzog Felix Wilfred (Indien) den wirtschaftsethischen Vorschlag Amartya Sens zur Lösung der Krise globaler Gerechtigkeit einer kritischen Würdigung. Dabei erhellte er die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes, machte aber auch dessen Grenzen deutlich, die sich aus dem Programm »Entwicklung als Freiheit« und dem Verständnis von Gerechtigkeit als Chancengleichheit im Wettbewerb des liberalen globalen Markts ergeben. Die Ausblendung des Verhältnisses zwischen Ungerechtigkeit und wirtschaftlicher Globalisierung verhindere letztlich die Einsicht in die Notwendigkeit radikaler struktureller Veränderungen. Eine Theorie zur Entwicklung weltweiter Solidarität müsse daher, so folgerte der Referent abschließend, einen individualistischen Ansatz überwinden, Identität und Identitätspolitik berücksichtigen, Globalisierung und Liberalisierung kritisch evaluieren und die herrschenden Machtverhältnisse zeitkritisch analysieren. | ||
7 | Unter den programmatischen Titel »Gerechtigkeit – eine Praxis der Fürsorge und Zärtlichkeit« plädierte Ada María Isasi-Diaz (USA / Kuba) für eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Gerechtigkeitsdiskurs und gerechtem Handeln, die Praxis als intrinsisches Element aller Theorie betrachtet und dem je fragmentarischen und vorläufigen Charakter aller Theorie Rechnung trägt. Aus hermeneutischer Perspektive regte sie an, Objektivität als radikale Subjektivität zu begreifen und universelle Prinzipien als Ausdruck der auf dem Weg des Dialogs erreichten Konsensbildung zu verstehen. Reziprozität bildet den Angelpunkt dieser Gerechtigkeitstheorie, die Ausgrenzung und Unterdrückung durch eine Praxis der Fürsorge und Zärtlichkeit zu überwinden sucht und sich bemüht, neue Möglichkeiten zu schaffen, damit das Leben aller gelingt. | |||
8 | Das Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit, wie es sich in Paul Ricœur zeigt, erhellte Fred Dallmayr (USA) in einem Kommentar zum gleichnamigen Vortrag, den der Philosoph anlässlich der Verleihung des Leopold-Lucas-Preises 1989 gehalten hatte. Dabei zeichnete er den Gedankengang Ricœurs von der anfänglichen Gegenüberstellung bis zur schließlichen Versöhnung von Liebe und Gerechtigkeit einfühlsam nach und erhellte ihn mit Zitaten aus den Biblischen Schriften, aus Philosophie, Literatur und Poesie. Ausgehend vom Denken Ricœurs thematisierte Dallmayer die religiöse Dimension menschlichen Handelns, die nicht nur eine Quelle der Motivation erschließe, sondern auch antreibe, Grenzen immer wieder zu überschreiten. | |||
Kontexte und Subjekte von Solidarität |
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»Um Afrikas Armut zu überwinden ist eine befreiende Solidarität mit Afrika nötig, die Unterschiede achtet, mit Gerechtigkeit in eins geht und die materiellen und menschlichen Ressourcen Afrikas anerkennt.« Peter Kanyandago |
9 | Mit der Zuwendung zu Kontexten und Subjekten von Solidarität vollzog sich im zweiten Forum ein Perspektivenwechsel, denn Referenten aus Ländern des Südens reflektierten ihre eigene Erfahrung von Solidarität, legten ihre Wahrnehmung der internationalen Solidarität aus der Sicht der Betroffenen in Afrika, Asien und Lateinamerika dar und formulierten kritische Anfragen als Impulse für die Weiterentwicklung einer Theorie interaktiver Solidarität. | ||
10 | Solidarisches Leben, wie es im kollektiven Gedächtnis und in der Kosmologie traditioneller afrikanischer Stammesverbände überliefert wird, gründet auf Beziehungen der Reziprozität. Dies legte Peter Kanyandago (Uganda) dar, um aufzuzeigen, dass internationale Hilfsprogramme, die auf die Schaffung institutioneller Solidarität ausgerichtet sind, aus afrikanischer Sicht kaum als solidarisches Handeln gelten können. Denn die Projektträger ließen kaum gegenseitige Wertschätzung, die Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeit, oder die Bereitschaft erkennen, Güter und Ressourcen mit anderen zu teilen. Um Afrikas Armut zu überwinden sei jedoch, so Kanyandago, eine befreiende Solidarität mit Afrika nötig, die Unterschiede achte, mit Gerechtigkeit in eins gehe und die materiellen und menschlichen Ressourcen Afrikas anerkenne. | |||
11 | Die existentielle Bedeutung von Solidarität im Leben einer traditionellen Stammesgemeinschaft erhellte Ramón Curivil Paillavil (Chile). Er wies solidarische Beziehungen als tragenden Grund individuellen wie gemeinschaftlichen Lebens aus und betonte die identitätsstiftende Kraft geteilten Lebens, stellte aber auch klar, dass es diese von religiösen und kulturellen Traditionen geprägte Lebensform heute unter veränderten politischen und sozialen Bedingungen lebendig zu erhalten und weiter zu entwickeln gelte. Deshalb sei es wichtig, so betonte Curivil Paillavil, jungen Menschen neue Zukunftsperspektiven zu erschließen, sie für den interkulturellen und interreligiösen Dialog zu befähigen und ihnen die Integration als Mapuche in die moderne Gesellschaft zu erleichtern. | |||
12 | Mit seiner Frage nach der »Solidarität in und mit der Kultur der Mestizen in Lateinamerika und in der Karibik« wandte sich Diego Irrarázaval (Chile) der verarmten und an den Rand gedrängten Bevölkerungsmehrheit zu, die aufgrund ihres Mestizentums diskriminiert wird. Dabei zeigte er nicht nur auf, dass Beziehungen zwischen den Kulturen und Verbindungen zwischen den Religionen Teil dieser schöpferischen Lebenswirklichkeit sind, sondern religiöser Synkretismus auch im Christentum verankert ist. Im Hinblick auf eine Weiterentwicklung interaktiver Solidarität regte Irrarázaval an, die Mestizen in die Solidarität mit ausgegrenzten Kulturen des Südens einzubeziehen und die interkulturelle und interreligiöse Kreativität der Völker, die sich weder absondern noch gleichgeschaltet werden wollen, im Christentum neu zu schätzen. | |||
Praxis der Solidarität |
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»Im Kontext eines religiösen und kulturellen Pluralismus gilt es, jenseits aller religiösen Ideen und Vorstellungen ein absolutes Prinzip zu finden, um darin die Gegensätze versöhnende, gemeinschaftsbildende und sinnstiftende Funktion von Solidarität zu verankern.« Sang-Bong Kim |
13 | Die Frage »Wer kann die neue Solidarität leisten und wie kann sie geleistet werden?« zeigte die ausdrücklich kritische Intention des dritten Forums an. Sein Ziel sei es, wie Michelle Becka (Deutschland) in ihrem Einführungsreferat erläuterte, ausgehend von exemplarischen Beispielen Verständnis und Praxis von Solidarität in institutionalisierten Solidaritätsformen dem Anspruch auf eine neue Solidarität gegenüberzustellen, die einen wechselseitigen Lernprozess einschließt. | ||
14 | Mit kritischen Anfragen zur Vergabepraxis von Auslandsstipendien für Studenten aus dem Süden und der Forderung nach einer neuen Solidarität entfachte José Santos Herceg (Chile) eine rege und kontroverse Podiumsdiskussion mit Vertretern der Friedrich-Ebert-Stiftung (Peter Häussler), der Konrad-Adenauer-Stiftung (Holger Dix) und des Stipendienwerk Lateinamerika-Deutschland (Margit Eckholt), die sich mit ihrer Projektarbeit um den Aufbau solidarischer Beziehungen zwischen Nord und Süd bemühen. | |||
15 | Einblick in Theorie und Praxis kirchlicher Solidaritätsarbeit gewährte die Podiumsdiskussion mit Vertretern großer deutscher Hilfswerke – Adveniat (Bernd Klaschka), Brot für die Welt (Helmut Hess), Misereor (Josef Sayer) und Missio München (Eric Englert) –, die durch Projektförderung in Ländern des Südens auf spezifische Solidaritätsforderungen antworten. Sie werteten die zunehmende Bedeutung von Projekten der »Hilfe zur Selbsthilfe« als Indikator für den Aufbau wechselseitiger Beziehungen zwischen Nord und Süd. | |||
16 | Forderungen nach einer neuen Solidarität griff Alexius J. Bucher (Deutschland) auf, indem er in streitbaren Thesen eine Weiterentwicklung christlicher Sozialethik als praxisorientierende Theorie struktureller Solidarität forderte. Diese sei dringend notwendig, um unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen durch die ethische Konditionierung von Kollektiventscheidungen eine neue Solidarität der Kulturen zu ermöglichen. | |||
17 | Die zentrale Bedeutung der Motivation für die Verwirklichung solidarischer interkultureller und internationaler Beziehungen unterstrich Sang-Bong Kim (Südkorea) auf dem Hintergrund der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in Ostasien. Im Kontext eines religiösen und kulturellen Pluralismus gelte es, jenseits aller religiösen Ideen und Vorstellungen ein absolutes Prinzip zu finden, um darin die Gegensätze versöhnende, gemeinschaftsbildende und sinnstiftende Funktion von Solidarität zu verankern. | |||
18 | Auf der Suche nach neuen Formen von Solidarität zwischen Nord und Süd wandte sich das Forum abschließend institutionalisierten Modellen sozialer Gerechtigkeit zu, um Perspektiven internationaler Zusammenarbeit in den Blick zu nehmen. Während Horst Sing (Deutschland) das westeuropäische Wohlfahrtmodell kritisch evaluierte, stellte Carmen Bohórquez (Venezuela) die venezolanische Initiative ALBA vor, ein sich an Simón Bolívar inspiriertes alternatives Modell solidarischer Zusammenarbeit, das als regionales Projekt eine neue Perspektive zur Gestaltung der internationalen Beziehungen eröffnet. | |||
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Die Herausforderung, neue Formen der Solidarität zwischen Nord und Süd zu entwickeln besteht – so hat diese Tagung gezeigt – vielleicht vor allem darin, »Solidarität als Rhythmus für die Bildung von Identitäten und zugleich als Maß für den Maßstab, mit dem wir unser politisches Handeln messen, neu zu lernen«(Raúl Fornet-Betancourt). |
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